Gollums dröges "Leben"
Autor: Gollum, m, Jg. 1970
Ich fange mal relativ weit vorne an: Eigentlich lief bis zum dritten Schuljahr alles normal, bis meine Klassenlehrerin in Mutterschutz ging und wir außer einer nicht wirklich durchsetzungsfähigen Lehrerin auch einen neuen Mitschüler bekamen. Einen Italiener. Ich weiß, es klingt nach Klischee, aber wie ich Jahre später erfuhr, war er tatsächlich der Sohn eines Mafioso und ist später wacker in die Fußstapfen seines Daddys getreten. Er hatte die etwas unappetitliche Angewohnheit, seinen Mitschülern (auch mir) auf dem Heimweg einzeln aufzulauern und um das Taschengeld zu erleichtern. Da ich damals noch so etwas wie ein Gerechtigkeitsempfinden hatte, war ich der einzige, der sich gewehrt hat. Damals waren mir die Auswirkungen eines pseudogutmenschelnden Schulsystems noch nicht wirklich bewußt. Ich als ein Deutscher, der mit den Deutschen Werten und Tugenden (was immer das auch sein mag) aufgewachsen ist (und per Definition ein pränatales Jurastudium absolviert haben mußte), konnte doch nicht einfach so auf einen wehrlosen (wesentlich kräftiger gebauten) Italiener (der natürlich unsere Werte und den Kram nicht kennen kann und damit aus der Perspektive eines Gutmenschen vermutlich ein Barbar ist) einschlagen. Die Schläge zirkulierten einige Monate, bis ich in die Klasse des Rektors versetzt wurde und zu einem Schulpsychologen geschickt wurde. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, mich einen "Intelligenztest" ausfüllen zu lassen. Trotzig, wie ich damals war, beantwortete ich sämtliche Fragen, deren Antwort ich wußte, falsch, was der hochqualifizierte Diplom-Psychologe, der Wert darauf legte, mit "Herr Doktor" angeredet zu werden, jedoch nicht glauben wollte. Auch nach einem Gespräch mit meinen Eltern nicht, weshalb er behauptete, ich könne froh sein, wenn ich die Hauptschule schaffen würde. Seine einzige "Therapie" bestand übrigens darin, mich mit anderen "Patienten" Hockey spielen zu lassen (die Variante, bei der man den Puck nur mit der flachen Seite des Schlägers berühren darf und das Stöckchen immer recht angeschwult drehen muß). Mittlerweile hatte ich in der Rektorklasse einen neuen Sitznachbarn: "Al Capone Junior".
Auf der Hauptschule habe ich es lehrermäßig besser getroffen. Meine Eltern sind zwar beinahe tot umgefallen, als sie mitbekamen, daß ich es wieder mit einer Lehrerin zu tun haben würde (ein Lehrer wäre ihnen lieber gewesen) und daß die Hälfte der Klasse aus Ausländern (Spaniern) bestand. Ich muß sagen: Die Frau war eine Perle! Sie war reich verheiratet und machte den Job, weil er ihr Spaß machte (Ihr Porsche auf dem Lehrerparkplatz fiel irgendwie auf). Sie hat es geschafft, den Haufen zu einer Mannschaft zusammenzuschweißen. Sie veranstaltete nicht nur Elternabende, sondern schaffte es auch, daß gemeinsame "bunte Abende" mit den Eltern bei Klassenkameraden veranstaltet wurden. OK, ich wurde, da ich restlos mit dem Unterricht unterfordert war und meine Hausaufgaben häufig vom leeren Blatt abgelesen habe, ein wenig als "Professor" gehänselt, aber es war weit entfernt von dem, was ich als Mobbing bezeichne. Leider kam es, wie es kommen mußte: Ich bekam das schulbeste Zeugnis. Da ich damals nicht direkt auf das Gymnasium wechseln durfte, mußte ich den Zwangsumweg über die Realschule nehmen, obwohl ich lieber auf der Hauptschule geblieben wäre. Da ich damals den Eindruck hatte, daß sie mich loswerden wollten (ich bekam zwar das eine oder andere "alles Gute" oder "viel Glück" aber kein "Ich werde Dich vermissen" oder "Du wirst mir fehlen" zu hören), brach ich alle Kontakte zu meinen ehemaligen Klassenkameraden zwar verbal, aber recht unsanft ab.
Okay, ich geb's ja zu: Bis jetzt war's noch recht kuschelig. Die Realschule, die vor mir schon meine beiden älteren Schwestern vor mir besuchten, war ein wenig übler. Wegen des Wechsels wurde ich ein Jahr zurückgestuft. Einige wenige Lehrer waren so weit in Ordnung, aber die Klassen-"Kameraden" und die meisten Lehrer waren die Seuche. Der Schüler, den sie bis dahin gemobbt hatten, freute sich über seine Ablösung. Ja, Mobbing sagt sich so einfach und ist für Lehrer ja sooo schwer zu eruieren, aber wenn vor der Sportstunde die gesamte Klasse um einen Mitschüler herumsteht und "XY, wir hassen Dich" skandiert, müßte sogar das Spatzenhirn eines Sportlehrers die Einschläge merken. Hinzu kam, daß mich noch einige von der Grundschule her kannten (oder besser glaubten, mich zu kennen). Eigentlich kannten sie nur meinen Ruf als "Schläger", was dazu führte, daß kaum eine Pause ohne Keilereien ablief. Da ich natürlich der "verhaltensauffällige" Schüler war, mobbten die Lehrer noch auf ihre eigene Art mit. Für sie war ich derjenige, der dauernd in Schlägereien verwickelt war und nie derjenige, der sich gewehrt hat. Mein Klassenlehrer machte mir sogar das zweifelhafte Kompliment, ich sei "gemeingefährlich". Es gibt viele "Experten", die im Zusammenhang mit Gewalt an Schulen von einer "Spirale der Gewalt" reden (der Begriff erinnert mich irgendwie an das "Kondom des Grauens" ;-) ). Das stimmt nur zum Teil: Es ist auch eine "Spirale des Vertrauensverlustes". Seinen mobbenden Mitschülern kann man ohnehin nicht vertrauen. Den Lehrern, die sich auf den Gemobbten fokussieren und die aus dem Mobbing resultierenden Verhaltensweisen des Gemobbten bestrafen, auch nicht. Und den Eltern? Naja, die Jähzornigkeit meines Vaters stieg proportional zu den Beschwerden der Lehrer. Einmal hat er mir z. B. mit einer Eichenlatte die Brille (die ich zu dem Zeitpunkt auf der Nase hatte) geschrottet (meiner Schwester erzählte er später, er hätte doch "nur" meine Nieren treffen wollen). Auch nicht wirklich eine gute Vertrauensbasis. Meine Mutter? Die konnte nicht wirklich etwas ausrichten. Meine beiden Schwestern waren zu der Zeit schon beide ausgezogen und genossen ihre Beziehungsprobleme. Im Endeffekt lief es darauf hinaus, daß ich mich im wahrsten Sinne des Wortes allein durchschlagen mußte.
Natürlich begann ich mich zu dieser Zeit für Mädchen zu interssieren. Aber entweder beteiligten sie sich am Mobbing, fanden mich nicht attraktiv oder wollten nicht mit mir zusammen gesehen werden, aus Angst, dann auch noch gemobbt zu werden. Überflüssig zu erwähnen, daß die Mädels auf meine Peiniger flogen wie die Fliegen auf die Scheiße.
Mit anderen Worten: Bis zu der Zeit, als im Geschichtsunterricht das Dritte Reich an die Reihe kam, ging es noch recht zärtlich und knuddelig zu, d. h., daß mich meine Klassenkameraden mit den üblichen "Nettigkeiten" bedachten, wie z. B. die Uhr einer Klassenkameradin in meinem Tornister zu deponieren, um anschließend zu behaupten, ich hätte sie geklaut, eine neue Jacke aus dem Fenster auf das nicht zu erreichende Dach des Anbaus werfen, etc., "Nettigkeiten" eben.
Ich möchte (auch virtuell) keine Beweise auf den Tisch legen, aber ich glaube, die meisten wissen, was eine Phimose-OP ist. Wer es nicht weiß: Dabei wird die zu eng sitzende Vorhaut entfernt. Einem solchen Eingriff mußte ich mich während meiner Hauptschulzeit unterziehen. Die Zeit, in der Hitler & Co. das Sagen hatten, wurde in der Realschule überwiegend durch irgendwelche flimmernden Schwarzweiß-Filmchen, in denen stämmige Leute auf vorhautlose Gerippe einprügelten und dabei "Jude" brüllten, vermittelt. Obwohl meine Klassen-"Kameraden" ansonsten über eine robuste Resistenz gegen Lerninhalte verfügten, paßten sie hier hervorragend auf. Schließlich hatte man ja nach dem Sportunterricht unter der Dusche jemanden gesichtet, mit dem man die Szenen hervorragend nachspielen kann. An diesem "Sport" hatten nicht nur meine Klassen-"Kameraden" ihre helle Freude. Irgendwann spielten zwei mir unbekannte Jungs dieses Spielchen mit mir und traten mich auf dem Heimweg zusammen. Obwohl es ihnen offensichtlich Spaß bereitete, konnte ich dabei nicht wirklich Freude empfinden. Die Stelle, an der eine Stiefelspitze einen meiner Wangenknochen grüßte und ihn dabei anbrach, kann ich heute noch fühlen. Einige Wochen später starb meine Oma. Da ist mir zum ersten mal bewußt geworden, daß ich - trotz aller Trauer - nicht mehr weinen konnte.
Obwohl ich mich während meines Überlebenskampfes kaum aufs Lernen konzentrieren konnte, habe ich (nach einer Nachprüfung in Deutsch) den - wie ich finde - ungastlichen Laden immerhin mit Qualifikationsvermerk verlassen.
Die Oberstufe auf dem Gymnasium war für mich etwas völlig ungewohntes: Es herrschte ein freundlicher Umgang und es gab keine Prügeleien. Ich wurde sogar zu Feten eingeladen. Wie ich rückblickend feststellen muß, wurde ich vermutlich nur eingeladen, damit die stämmigeren Kerls in meiner Gegenwart besser zu Geltung kamen. Obwohl meine Klassenkameraden sich mir gegenüber - für mich ungewohnt - nett verhielten, wurde ich ein gewisses Fremdkörpergefühl nicht los. Ich konnte mich nicht so gewählt ausdrücken, die Lateinischen Zitate waren Böhmische Dörfer für mich, etc.
Da mir viele Vorkenntnisse fehlten, war ich restlos überfordert. Hinzu kam, daß ich zu dieser Zeit angefangen habe, mein Taschengeld durch morgendliches Zeitungenaustragen aufzubessern. Damals war ich es noch nicht gewohnt, bei Wind und Wetter herumzulaufen und war deshalb zu oft krank, was dazu führte, daß ich die Oberstufe vor dem Fachabi wegen zu vieler Fehlstunden abbrechen mußte.
Während der Oberstufe bin ich vorübergehend zu meiner Schwester gezogen. Nachdem ich das Abi abgebrochen hatte, habe ich mir ein "Wohnklo" gemietet und mich ca. ein Jahr mit Zeitungen-Austragen (mittlerweile war ich abgehärtet), Nachliefern und Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Die Aussichten auf einen Job sahen damals natürlich sehr düster aus. Mein Realschulzeugnis hätte sicher keinen Personalchef entzückt. In jenem Jahr habe ich Meyers 24-Bändiges Taschenlexikon gelesen und mir ab und zu Bücher gekauft, wenn ich mehr über ein Thema wissen wollte, lernte plan- und ziellos drauflos, beschäftigte mich mit Lerntechniken und ging dreimal pro Woche ins Fitneßstudio (Aufbautraining - hat aber zu keiner nennenswerten Gewichtszunahme geführt).
Ein Schreiben, das eines Tages in meinen Briefkasten flatterte und das viele Jungs in meinem Alter fürchteten, bereitete mir wirklich Freude: Der Musterungsbescheid! Dank eines guten Wehrdienstberaters kam ich auch genau dahin, wo ich wollte: in ein Rechenzentrum. Ich hatte zwar Schichtdienst, was zu einer inoffiziellen Kampftrinker-Ausbildung führte, ;-) aber ansonsten war es besser, als ich befürchtet hatte. Es gab zwar auch Sticheleien, aber irgendwie lernte ich zu kontern, was zu einer recht gleichmäßigen Zirkulation der dummen Sprüche führte. Wir haben zwar sehr oft Flensburg unsicher gemacht, aber da wir als Gruppe losgezogen sind, konnte ich keine Frauen kennenlernen.
Nach der Marine hatte ich zwar den Grundwehrdienst hinter mir, was aber leider meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht wirklich verbesserte. Zum Glück fand ich beim Arbeitsamt einen guten Berater. Er empfahl mir die Höhere Handelsschule. Ich hatte zwar zuerst meine Bedenken, einerseits weil es ein merkwürdiger Gedanke war, auf meine "alten Tage" nochmal die Schulbank zu drücken, andererseits hatte ich meine Bedenken, ob ich den kaufmännischen Kram in meinen Kopf bekommen würde. Da ich wußte, daß es meine letzte Chance war, beruflich noch halbwegs etwas zu "reißen", beschloß ich, mich ausschließlich auf die Lernerei zu konzentrieren, auch wenn ich damit den einen oder anderen "Streberspruch" riskierte. Mit Erfolg. In meiner Klasse war noch ein Klassenkamerad, der ebenfalls das Abi abgebrochen hatte. Wir waren die beiden Dauer-Einserkandidaten. Das heißt aber nicht, daß wir uns als Konkurrenten sahen. Eigentlich sogar eher als Freunde (hey, keine falschen Gedanken: Wir waren beide hetero!). Irgendwann fragte mich ein Klassenkamerad, der in Mathe zwischen fünf und sechs stand, ob ich ihm Nachhilfe in Matrizenrechnung geben könnte, da er im Unterricht nur Bahnhof verstanden hätte und ein Test bevorstand. Nach drei Stunden recht intensiver Nachhilfe hatte ich den Eindruck, daß er es verstanden hätte. Mein Nachhilfeschüler und ich schrieben die beiden einzigen Einsen im Test, wobei ich mich über die Eins meines Nachhilfeschülers mehr freute als über alle eigenen Einsen auf der HöHa. Der Nachhilfe-Erfolg führte dazu, daß ich bei meinen Eltern (in meinem Wohnklo war zu wenig Platz) eine in Spitzenzeiten siebenköpfige Nachhilfegruppe "leitete", wobei ich anfangs erst selbst alles erklärte, aber später eigentlich fast nur noch "moderieren" mußte (und darauf achtete, daß die Klönerei nicht Überhand nahm). Einem Klassenkameraden, der mir anvertraute, daß er sich von ein paar Klassenkameraden gemobbt fühlte, konnte ich sogar erfolgreich Nachhilfe in Sachen Kontern geben. Wieso ich das erzähle? Die Nachhilfegeberei führte dazu, daß ich zum ersten mal das Gefühl hatte, auch sozial anerkannt zu werden. Leider hatten wir auch Sport, was mir auf meinem Bewerbungszeugnis die Null hinter dem Komma verhagelte. Ich habe zwar am Ende nur mit 1,4 abgeschnitten, aber das ist immerhin etwas, wenn man bedenkt, daß es von 21 Schülern nur elf ins zweite Jahr geschafft haben, von denen aber insgesamt zehn (darunter meine komplette Nachhilfetruppe) bestanden haben, kann ich trotzdem halbwegs zufrieden sein. Blöd war nur, daß ich während der ganzen Lernerei keine Zeit hatte, an Frauen auch nur zu denken. Ich bin mir aber trotzdem sicher, daß ich Signale bemerkt hätte, wenn es welche gegeben hätte.
Nach der HöHa wäre ich eigentlich "heiß" auf die Fachhochschule gewesen. Aber nein: Das "Bildungs"-System fand, daß es wieder mal an der Zeit war, dem Gollum einen Knüppel vor die Füße zu werfen. Damals galt nämlich noch die Regelung, daß die HöHa nur dann als Fachhochschulreife anerkannt wurde, wenn sich der Absolvent durch ein einjähriges, gelenktes Praktikum oder eine mindestens zweijährige kaufmännische Ausbildung systematisch verblöden ließ. Jeder Fachabiturient, der vielleicht sämtliche Versionen der Antigone vorwärts und rückwärts aufsagen konnte, aber in kaufmännischen Bereichen von keiner Fachkenntnis getrübt war, durfte Wirtschaftsinformatik studieren, aber ein HöHa-Absolvent, der in etwa weiß, was während des Studiums auf ihn zukommt, durfte das nur dann, wenn er sich die gleichen Lerninhalte, die er bereits auf recht hohem Niveau auf der HöHa lernte, auf einem wesentich niedrigerem Level auf der Berufsschule erneut antat. Mittlerweile wurde diese schwachsinnige Regelung zwar aufgehoben, aber davon habe ich nichts mehr.
Mit meinem HöHa-Zeugnis hatte ich immerhin bessere Karten, eine Lehrstelle zu finden. Die Frauenquote in der Berufsschule war zwar - aus meinere Sicht - traumhaft, aber die meisten waren leider verpartnert und die anderen hatten kein Interesse an mir. Nach einem halben Jahr kam noch erschwerend hinzu, daß mein Ausbildungsbetrieb mich als Programmierer an Projekten arbeiten ließ und ich viel arbeitete und eigentlich kein Privatleben hatte. Da ich fast nur noch arbeitete, bin ich zu meinen Eltern zurückgezogen. Eigentlich nur, um mich "zwischenzuparken", aber leider ist ein Dauerzustand daraus geworden. Wenigstens ist jemand da, der mich anbrüllt oder loskeift, wenn ich nach hause komme. Während der Lehre hörte ich übrigens einmal mein ehemaliges "Grundschulrektum" im Radio, das sich über den steigenden Rassismus an seiner Schule ausweinte. Es hat eine Weile gedauert, dem Kollegen, der mit mir im Büro saß, meinen recht heftigen Lachanfall zu erklären.
Zum Abschluß der Lehre gab es Kaffee, Kuchen, Schnittchen und ein Staatsbürgertaschenbuch bei der IHK. Dort traf ich auch meinen Mitklassenbesten von der HöHa wieder. Außer den Leckereien und dem Buch hätte ich dort auch ein 10.000-DM-Stipendium bekommen können, was leider an eine Altersgrenze gekoppelt war, die ich leider um nicht ganz zwei Jahre überschritten hatte. Meine Zeit bei der Marine wäre anstandslos anerkannt worden, aber das Jahr, das ich beim Wechsel von der Haupt- auf die Realschule verloren hatte, wäre nur mit einem Schreiben meines ehemaligen Schulpsychologen anerkannt worden. Ich schrieb ein - jedenfalls nach Ansicht unseres Prokuristen - sehr freundliches Schreiben an meinen damaligen Schulpsychologen, inklusive Kopien meiner Zeugnisse. Die Antwort, daß er sich damals keinesfalls geirrt hätte und er mich als Spätentwickler eingestuft hätte, er mir dennoch alles Gute wünschte, überraschte mich nicht wirklich. Mir war völlig klar, daß dieses Arschloch, das mir meine Schullaufbahn versaut hat, sich natürlich nicht die Chance entgehen lassen würde, mich obendrein um 10 Riesen zu bescheißen. Mit dem Stipendium hätte ich vielleicht noch studieren können/wollen, aber ohne: Nein.
Nach der Lehre arbeitete ich noch ein Jahr in der Firma und suchte mir einen anderen Job, da ich es unverschämt fand, für das Gehalt eines Bürokaufmanns die Leistungen eines Programmierers zu bringen. Immerhin haben sie in mein Zeugnis geschrieben, daß ich zuletzt als Programmierer tätig war.
Ich fing daraufhin bei der Firma an, bei der ich im Prinzip jetzt auch noch arbeite (die Firma ging zwischenzeitlich insolvent, aber unser Hauptkunde gründete ein Tochterunternehmen, in dem einige meiner ehemaligen Kollegen und auch mein ehemaliger Chef arbeiten). Ich arbeite als Programmierer und 2nd-Level-Supporter in einem EDV-Unternehmen, das überwiegend Einrichtungen und Kliniken in den Bereichen Sucht und Psychosomatik betreut. Anfangs arbeitete ich drei Jahre an einem Projekt, das mich wieder beinahe rund um die Uhr beschäftigte. Nach dem Projekt ließ der Streß ein wenig nach, was mit der Zeit zu verstärktem Gedankenkreisen führte.
An meinem 30ten Geburtstag beschloß ich, das Thema Frauen aufzugeben und nahm mir vor, zu versuchen, auch ohne glücklich zu werden, was leider nicht funktionierte. Mit 34 sah ich keinen Sinn mehr in meinem Leben (um ehrlich zu sein, jetzt mit 36 auch nicht) und wollte meinen 35en Geburtstag nicht mehr erleben. Da ich alles sauber hinterlassen und meine Sippe nicht in ein plötzliches Unglück stürzen wollte, habe ich versucht, meine Sippschaft möglichst vorsichtig darauf vorzubereiten. Ich wollte (und will eigentlich immer noch), daß mich die Lücke, die ich hinterlassen werde, vollstängig ersetzt. Leider führte das zu permanenten Diskussionen und Anbrüllereien in meiner Sippe, was widerum dazu führte, daß auch meine beruflichen Leistungen nachließen. Nachdem ich eine Abmahnung kassiert hatte, ließ ich bei meinem Chef durchsickern, daß ich privaten Streß wegen meines geplanten Ablebens hätte und daß wir so oder so mal darüber reden sollten, welche Kollegen meine Bereiche übernehmen sollten. Er schickte mich daraufhin zu einem Psychologen, bei dem ich auch heute noch in Behandlung bin. Nach ca. 3 Monaten empfahl er mir eine stationäre Therapie. Ich kenne die Behandlungskonzepte unserer Kunden und wäre auch gern in eine unserer Kliniken gegangen, aber ich habe befürchtet, damit den Eindruck zu erwecken, daß ich die Klinik, für die ich mich entschieden hätte, auch bevorzugt als Kunden behandeln könnte. Deshalb entschied ich mich für eine Therapie in einer Klinik, die nicht zum Konzern gehört. Mitte Dezember '05 wurde ich wegen Eßstörungen und Depris aufgenommen. Außer meinem Zimmergenossen hatte ich lauter Mädels und Frauen auf meiner Station. Sie waren zwar alle sehr nett, aber ich bezweifle, daß sie sich mir gegenüber genauso nett verhalten hätten, wenn ich ihnen irgendwo anders begegnet wäre. Ich habe auch recht ordentlich zugenommen. Zwar immer noch kein Normalgewicht, aber immerhin etwas. Leider habe ich von meiner Entlassung erst durch einen Laufzettel in meinem Patientenpostfach erfahren. Ok, ich verstehe, daß zwischen Weihnachten und Neujahr personelle Engpässe bestehen können. Aber daß für die gesamte Station zwischenzeitlich nur ein Therapeut zuständig war (der zudem gerade erst aus dem Urlaub zurückkehrte) und daß ich nicht über die genehmigte Behandlungsdauer informiert wurde, ist - finde ich - nicht die "feine Englische". Es hätte auch nichts gebracht, Widerspruch einzulegen, da zu dem Zeitpunkt, als der Laufzettel in meinem Fach lag, bereits der "Marschbefehl" für meinen Nachfolger unterwegs war. So war der stationäre Aufenthalt nach fünf Wochen vorbei. Ich hatte noch nicht einmal alle Themen der Ernährungsberatung durch. Immerhin haben sie festgestellt, daß ich auch noch soziophob bin.
Nach der Klinik habe ich mich bei einem Eßgestörten-Forum registriert. Nicht nur, um mich mit anderen über Eßstörungen auszutauschen, sondern auch, um bei Treffen meine Schüchternheit im Umgang mit Frauen ein wenig abzubauen (mein Therapeut war übrigens begeistert von der Idee). Mittlerweile hatte ich drei Treffen mit Mädels aus dem "Essie-Forum". Es ist nicht so, daß ich von den Treffen erwarte, dort meine Traumfrau zu finden. Ich würde auch keine Anmachversuche starten. Aber ich hoffe, ein bischen lockerer zu werden, wenn ich Übung darin bekomme, mich mit Frauen zu unterhalten, die ich zum ersten mal zu Gesicht bekomme. Beruflich habe ich übrigens kein Problem mit Kundinnen. Das liegt vermutlich daran, daß ich die "Rolle" des netten und kompetenten EDV-Heinis perfekt beherrsche und auch tatsächlich bei EDV-Problemen helfen kann, es also um ein Thema geht, auf dem ich bewandert bin. Schwieriger ist es für mich, über etwas zu reden, das ich nicht wirklich kenne (z. B. über mich) oder über irgendwelche Interessen oder Hobbies (die ich nicht habe).